Vom wahren Weinstock und den Rebzweigen spricht Johannes im 15. Kapitel seines Evangeliums.
Ein Bild, das in der Region, in der ich zu Hause bin, sehr eingängig ist. An unseren Wochenenden wandern wir mit der Familie immer wieder durch die Weinberge im Rheingau. Und wenn man so durch die Reben wandert, sieht man wie sich nach jeder Woche die Zweige entwickeln, Knospen bilden, Blätter grün werden; und wie die Winzer im Weinberg arbeiten, wenn sie die Rebstöcke auf zwei Rebzweige zurückschneiden und anbinden, den Weinberg auflockern und wie sie kleine Behälter mit Lockstoffen gegen Schädlinge aufhängen. Es ist schön, diesen Fortgang mitzubekommen.
Jesus sagt von sich, dass er der „wahre“ Weinstock ist und wir die Rebzweige (Joh 15). In dem Bild geht es um die Zweige, die von der Lebenskraft des Stammes durchströmt werden. Vom Rebstock kommt Kraft zum Wachsen; getrennt vom von ihm verdorren die Reben. Das ist fast schon eine triviale Wahrheit, die keiner bezweifeln kann. Das Neue ist, dass Jesus sagt, dass es sich mit unserer Seele so verhält, wie mit dem, was wir in der Natur beobachten können.
Der Weinstock ist der Lebensbaum, so schreibt Rudolf Bultmann. Der Baum des Lebens ist ein in vielen Mythologien verbreitetes Bild. Als Weltachse steht er im Zentrum der Welt. Seine Wurzeln reichen in die Erde und seine Krone berührt den Himmel. Genauso ein Baum steht auch in der Mitte des Paradieses (Gen 2,9) neben dem berühmteren Baum der Erkenntnis, der Adam und Eva zum Verhängnis wurde. In diesem Bild vom Lebensbaum geht es um die Verbindung von Himmel und Erde, von Gott und Mensch.
Dieses Traum- und Sehnsuchtsbild ist in Jesus verwirklicht – so sagt das Evangelium nach Johannes. Jesus ist der „wahre“ Weinstock (Joh 15,1) bzw. der „wahre Lebensbaum“ heißt so viel, dass das Leben, das wir ersehnen, durch die Verbindung mit Jesus erhalten. Jesus ist der Weg und Vermittler; an seinem Leben können wir ablesen, was uns verheißen ist.
Das Gleichnis vom Weinstock und den Rebzweigen erinnert uns also daran, in Verbindung zu bleiben oder wieder in die Verbindung zurückzukehren. Die Kraft für unser Leben und Lieben müssen wir nicht aus uns selbst herauspressen, sie fließt uns von Gott her zu.
Verbundenheit, Bleiben, Wohnung nehmen – das sind typische Worte des Johannesevangeliums. Schon zu Beginn des Evangeliums fragen die Jünger des Johannes „Wo wohnst du?“ und interessieren sich damit nicht für eine Postadresse, sondern sie sind neugierig, wo Jesus sein seelisches Zuhause hat, d.h. woher er seine Kraft schöpft. „Kommt und seht“ erhalten die Jünger und wir zur Antwort. Wenn wir mit Jesus innerlich mitgehen, werden wir erfahren, woraus er lebt. Später hören wir, dass Jesus sagt „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30) – Jesus lebt also ganz aus Gott heraus, den er Vater nennt. Und er möchte auch uns einladen, diese Beziehung zu Gott zu leben, auf dass wir „Söhne und Töchter Gottes“ werden, wie er.
Das Johannesevangelium erinnert uns also daran, uns in Gott zu verwurzeln. Und es ermahnt uns, uns nicht zu isolieren und abzuschotten, sondern mit dem Größeren in Verbindung zu bleiben und auf die Welt und die Menschen bezogen zu leben. Darin liegt das Leben.