Im Markusevangelium wird von einem Konflikt Jesu mit seiner Familie erzählt. (Mk 3, 20-21). In dieser Geschichte gewährt uns der Evangelist Einblick in das Innere Jesu. Es ist typisch für alle vier Evangelien. Sie entfalten keine trockenen Theorien über Jesus, sondern ähneln eher einem Roman, in dem der Charakter der Hauptfigur fassbar wird, indem der Autor beschreibt, wie sie sich in bestimmten Situationen verhält und wie sie auf Herausforderungen reagiert. Wie ja auch im wirklichen Leben. Welche Identität ich habe, was mich motiviert und was mein Charakter ist, wird nicht daran deutlich, wie ich über mich denke, sondern durch die Art und Weise, wie ich empfinde, urteile, handle und auf Herausforderungen reagiere.
Markus berichtet, dass Jesus in ein Haus ging und so viele Menschen kamen, dass er nicht einmal essen konnte. Eine Szene, die man sich in Corona-Zeiten gar nicht mehr vorstellen kann. Was sagt das über Jesus aus?
Anders als die Asketen von Qumran, die Essener, die sich in ein Kloster zurückzogen, um Gott nahe zu sein und sich selber als den „Heiligen Rest“ sahen, der vor Gott noch eine Chance hatte und dabei die Mehrheit der Menschen schon aufgegeben haben, ging Jesus mitten ins Leben hinein. Er liebte auch die Einsamkeit und suchte Auszeiten, wie z.B. in der Wüste, in denen er – ohne abgelenkt zu werden – sich mit dem Vater verband und sich vergewisserte, dass er von ihm gehalten war. Wie in einer menschlichen Beziehung sind solche dichten Zeiten notwendig. Aber Jesus blieb nicht in der Versenkung „stecken“. Kurz nachdem er auf dem Berg Tabor war, und den Jüngern in einem anderen, dem göttlichen Licht erschienen war, ging er wieder den Berg hinunter und heilte am Fuß des Berges einen besessenen Jungen. Jesus war nicht in den Himmel abgehoben, sondern verwurzelt mit der Erde.
In den Evangelien wird uns immer wieder von seiner engen Verbindung mit dem Vater erzählt; sie ist die Mitte seiner Identität und nichts konnte ihn davon abbringen konnte, diese Beziehung zu leben. Er wusste sich mit Gott nicht nur verbunden, wenn er in Thora die alten Geschichten Israels las oder in der Synagoge die Psalmen betete, sondern in allem, was ihm begegnete.
Wenn wir auf Jesus blicken, heißt Beten nicht, dass unsere Gedanken ständig nur um Heilige Dinge kreisen. Es geht vielmehr darum, Gottes verborgener Gegenwart in Allem zu erspüren, im Geiste Christi zu leben und im Bruder und in der Schwester Gott zu begegnen. In dieser inneren Haltung wird das ganze Leben ein Gebet. Es gibt kein profan und heilig mehr, und schon gar nicht einen „heiligen Rest“ von Frommen und einer Masse der Verdammten – wie die Mönche von Qumran meinten.
Doch nicht nur die eigene Sinnsuche trieb Jesus unter die Menschen. Das, was ihn selber erfüllte, dass wollte er allen vermitteln, denen er begegnete: das Evangelium. Es drängte ihn dazu, die Liebe, in der er selber gehalten war, zu verbreiten und Menschen aus ihrem Dunkel ins Licht zu bringen; da war es zweitrangig, wenn er einmal nichts zu essen bekam, wie Markus berichtete. Es gab nun wirklich Wichtigeres zu tun, als den Hunger zu stillen.
Vermutlich haben die Menschen, denen Jesus begegnete, gespürt, wie sehr er für seine Sache brannte. Doch seine Verwandten verstanden das ganz und gar nicht. Markus schreibt: „Als sie davon hörten, machten sie sich auf den Weg, um ihn mit Gewalt zurückzuholen; denn sie sagten: Er ist von Sinnen“ (Mk 3, 21)
Das Fatale ist, dass die Familie meint, Jesus zu kennen – und zwar besser als er sich selber. Auf einer ersten Ebene kennt die Familie Jesus natürlich schon am besten: sie hat ihn aufwachsen sehen und erlebt, wie er sich entwickelt hat, kennt seine Vorlieben etc.
Aber genau diese familiäre Nähe macht sie gerade blind für das eigentliche Geheimnis Jesu. Dafür braucht es einen Abstand: ohne diese gute Distanz, geht die Ehrfurcht vor dem nicht greifbaren Du verloren und die Achtung vor der Freiheit des Anderen schwindet. Die Familie begreift nicht, was Jesus dazu bringt, so zu handeln, wie er handelt. Weil sie ihn nicht versteht, und sein Tun nicht in ihre Verhaltensmuster passt, erklärt sie ihn schlicht für verrückt. Es hätte ja auch anders sein können, die Familie könnte z.B. stutzig werden sich selbst in Frage stellen, verwundert wahrnehmen, wie wenig sie Jesus bisher verstanden haben.
Aber diese Abwertung Jesu ist ja nicht die einzige Anmaßung. Markus spricht von „Gewalt“, die sie anwendete, um ihn zurückzuholen. Dabei muss es ja nicht nur um körperliche Gewalt gehen. Seelische Gewalt fügt noch viel tiefere Wunden zu. Wenn einer aus einem System ausbricht, sich anders verhält, anders empfindet, anders denkt entwickelt das System eine immense Kraft, diesen „Gesetzesbrecher“ gewaltsam wieder zurückzuholen. Es ist die Macht des Gewohnten und Vertrauten, die das Neue zu erdrücken droht. Jesus erlebte hier, was viele Menschen vor und nach ihm erlebt haben, die einen eigenen Weg in eigener Freiheit gegangen sind und dabei mit ihrer Gemeinschaft in Konflikt gerieten.
Bei Markus endete die Erzählung in diesem Konflikt. Schon einige Verse weiter Mk 31-35 passiert ihm dasselbe noch einmal. Doch hier konfrontiert Jesus seine Familie: „Lasst mich in Ruhe und bildet euch nicht ein, über mich verfügen zu können“ sagt er sinngemäß, „Wer den Willen des Vaters tut, der ist für mich Schwester, Bruder und Mutter.“ Der Geist bringt die Nähe und stiftet eine neue Familie.