Weihnachten rückt näher, die Vorbereitungen laufen. Im katholischen Gottesdienst wird heute aus dem Buch Jesaja vorgelesen, der den Gesalbten/ Messias/ Christus verheißt, der kommen wird, um zu heilen, befreien und trösten.
Jesaja schreibt seine Verse in der Bedrängnis. Er ist im babylonischen Exil, in dem Israel um sein geistiges und religiöses Überleben ringt. Doch so groß die Not und Einschränkung auch war – unwillkürlich denkt man an die Corona-Bedingungen heute – so produktiv und kreativ erwies sich diese Zeit. Allein diese Beobachtung kann inspirieren. Und tatsächlich löst die Corona Zeit, ja auch unerwartete, kreative Prozesse aus und hilft manchem, das eigene Leben zu vertiefen. Auf jedem Fall erging es dem Volk Israel so. Es wurde sich in der Fremde seiner eigenen Identität immer bewusster. Im Babylon entstanden grundlegende Schriften des Alten Testaments, wie z.B. die Priesterschrift oder eben das Buch Jesaja bzw. Deuterojesaja.[1]
„Tröstet mein Volk“ (Jes 40), so beginnt seine Schrift und stimmt zugleich ihr Leitmotiv an. Der Prophet stiftet Trost in der Bedrängnis, nicht in dem er zurückschaut, sondern indem er eine Vision der Zukunft entwickelt. Dieses Vorgehen des Jesaja lohnt es, genauer anzuschauen.
Visionen (lat. visio) sind – wörtlich genommen – Erscheinungen, d.h. Bilder, die einem Menschen zufließen, Bilder, die weiter und tiefer sehen lassen und neue Perspektiven eröffnen. Die Bibel geht davon aus, dass die Bilder von Gott kommen. Aber auch das säkulare Denken kennt die Rede von „Visionen“, im Sinne von Leitbildern und bahnbrechenden Ideen, die zu einer noch klareren Identität und Authentizität führen.
Es ist wie die Suche nach dem roten Faden meines Lebens. Normalerweise schauen wir zurück, auf unser Gewordensein, um unsere Identität, eben den roten Faden, zu finden. Doch man kann auch in die Zukunft schauen, auf was oder auf wen ich zugehe, was sich entfalten will, was mich erwartet. Ich kann verfolgen, wie sich der rote Faden meines Lebens in die Zukunft fortsetzt und auf das Ziel zubewegt, auf das mein Leben hinausläuft. Genau das macht (Deutero-)Jesaja in seinen Texten.
Die Zukunft prägt unser Leben genauso wie die Vergangenheit. Und welches Bild ich von meiner Zukunft habe, beeinflusst mein Verhalten jetzt. Es gibt ja das Phänomen der sogenannten „sich selbst erfüllenden Prophezeiungen“, d.h. das eintritt, was ich mir vorstelle, weil ich mich ganz auf dieses Bild einstelle. Wenn ich mir z.B. vorstelle, dass ich Angst vor einer Herausforderung haben werde, werde ich vermutlich Angst haben. Genauso kann ich mir wie Jesaja vorstellen, dass mich Trost, Freiheit und Liebe erwarten werden und das alles, was ich jetzt erlebe, selbst, was mir schwer fällt, eine Etappe auf dem Weg zu diesem Ziel ist. So können sich Blockaden lösen, Ängste sich abbauen und Fixierungen überwunden werden.
Einem Mann wie Victor Frankl hat diese Haltung das Leben gerettet. Als Jude wurde der berühmte Psychologe von den Nazis ins KZ verschleppt. Er konnte diese menschenverachtende Zeit nur überleben, weil er sich in seiner Not vorstellte, wie er nach diesen Höllenerfahrungen, wenn alles vorbei sei, wieder in Wien vor Menschen auftreten und von seinen Erfahrungen berichten werde. Er stellte sich diese Zukunft vor, als ob sie schon eingetreten wäre, und erlebte aus dieser Perspektive seine Gegenwart. Die erlittenen Brutalitäten im KZ erhielten dadurch für ihn eine neue Bedeutung, so als ob sie nur vorläufig wären und genau deshalb konnte er sie innerlich überleben. Victor Frankl hat sich dabei nichts vorgemacht oder schöngeredet. Denn tatsächlich nach der Nazi-Zeit tat er genau das, was er sich vorgestellt hatte und wurde Gründer der Logotherapie.
Diese vielleicht etwas abstrakten Überlegungen gehen dem nach, um was es im Advent geht. Adventus heißt Ankunft. Es geht dabei um eine dreifache Ankunft: in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Zum einen feiern wir die historische Ankunft Jesu in der Menschheit vor 2000 Jahren; dann will der Advent uns öffnen dafür, dass Jesus in der Gegenwart, bei mir, in meinem Herzen ankommen will; schließlich aber richtet sich der Blick auf die Zukunft, auf das zweite Kommen des Messias, oder unser Ankommen bei ihm nach unserem Tod oder am Jüngsten Tag – eine Vision, ein Bild, das unser Leben in der Gegenwart ändern kann.
Impulse
- Die Bilder des Jesaja-Textes laden zum Meditieren ein. Ich suche mir ein Bild heraus, das mich anspricht und bleibe bei ihm.
- Ausgehend von dem Text kann ich die beschrieben Haltung ausprobieren. Ich frage mich, wie ich mir die in der Bibel verheißene Zukunft vorstelle, wenn alles in der Liebe Jesu geeint ist.
- Jesus will schon jetzt in meiner Gegenwart ankommen und ich darf mich ihm, öffnen. „Und wäre Christus tausendmal in Bethlehem geboren, und nicht in dir: du bliebest ewiglich verloren“, schreibt Angelus Silesius. Ich nehme mir Zeit, um vor Jesus da zu sein.
- Das Bild vom Roten Faden, der sich in die Zukunft weiterspinnt, nimmt ein PC-Spiel spielerisch auf. Ich kann dieses Animation zum Anlass nehmen, darüber nachzusinnen, auf welches Ziel sich der rote Faden meines Lebens hin bewegt: zoomquilt.org
[1] Der sogenannte „zweiten Jesaja“ (Deuterojesaja) ist ein Theologe aus der Schule des Jesaja, also des Propheten, der vor dem Babylonischen Exil lebte und Israel Unheil androhte.