Auf der Schwelle

„Panta rhei (πάντα ῥεῖ)“ –  soll Heraklit gesagt haben: „Alles fließt.“ Die ganze Wirklichkeit ist ein Prozess, sie ist in Bewegung und in ständiger Veränderung begriffen. Dieses Prinzip gilt für das Leben eines einzelnen Menschen, aber auch für gemeinschaftliches Leben.

Abstrakt gesprochen bedeutet Wandel, dass etwas Altes, Vertrautes seine innere Kraft verliert und losgelassen werden muss, damit etwas Neues beginnen kann.

Zwischen dem Alten und dem Neuen liegt eine Schwelle; und die gilt es zu überschreiten.  Auf der Schwelle zu stehen verlangt, Unsicherheit auszuhalten, da das Neue noch nicht in Sicht ist. Schwellenzeiten sind Krisenzeiten. Und  in der Krise sein – das will keiner.  Denn in der Krise taucht die Angst auf, ins Haltlose zu fallen und nichts mehr zu haben, an dem ich mich festhalten kann.

Bei genauerem Hinsehen sind Krisen aber wertvolle, verdichtete Zeiten. In Krisen werden die Geister offenbar, die unser Handeln und Miteinander bestimmen und es gilt zu unterscheiden, welchem Geist wir Raum geben wollen.

An der Schwelle weitet sich der Blick vom Alltäglichen auf das Grundsätzliche. Das Herz öffnet sich und nimmt die größeren Zusammenhänge, in die wir eingebunden sind, wahr. Und vielleicht öffnet es sich auch für den Größeren, der uns trägt, für das Geheimnis, das wir mit den Namen „Gott“ bezeichnen.

Leben ist in einem ständigen Wandel begriffen, wie Heraklit sagt. Und doch gibt es in jedem Wandel etwas Bleibendes. Jeder Fluss hat ein Flussbett, das bei allem Fließen gleich bleibt; unser Leib bleibt mit sich identisch, auch wenn jeden Augenblick alle unsere Zellen ausgetauscht werden; in der Sprache wechselt das Vokabular, aber die Grammatik hält sich durch. Die Identität liegt nicht in der Ausdrucksform, sondern in der Logik und inneren Struktur; auf den Geist kommt es an.

Der Geist ist schwer zu definieren und schon gar nicht festzuhalten. Man muss ihn erspüren und sich in ihm beheimaten; und wenn man im Geist ist, gilt es aus ihm heraus, neue Formen des Miteinanders suchen.

 

 

Hans-Joachim Tambour

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert